Lesepredigt zum 29. März 2020

Predigt zu Hebr. 13,9-14 – 29 März 2020 - Altenmünster
als Lesepredigt am Sonntag Judika in Zeiten von Corona


„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“
- Im Gespräch mit Menschen, die unter der momentanen Ausnahmesituation unter Corona leiden, begegnet uns immer wieder die kritische Frage nach der Gerechtigkeit Gottes: „Wo bleibt Gott in dieser Krise? Wo bleibt Gott bei all dem schrecklichen Leid, das nicht nur diese Krankheit über die Welt bringt?“ Es ist eine Frage, die an uns Christ*innen herangetragen wird, und eine Frage, die wir uns selbst stellen. Ja, Menschen können an Gott verzweifeln. Sie können aufhören, an Gott zu glauben, weil ihre Gebete scheinbar ungehört verhallt sind, weil Gott einen lieben Menschen sterben ließ, den sie doch so dringend gebraucht hätten. - Welchen Trost, welche Antworten haben wir einem solchen Menschen zu bieten?

„Wir haben hier keine bleibende Stadt. Eine zukünftige suchen wir“ schreibt der Hebräerbrief. - Aber die Menschen, die nach der Gerechtigkeit Gottes fragen, wollen jetzt leben. Sie wollen ihre Lieben jetzt an ihrer Seite wissen und mit ihnen jetzt in ihrer „Stadt“ wohnen. - Immer wieder geschieht es: Vieles, auf was wir hoffen, zerbricht. Manches, was unserem Leben Halt gibt, fällt zusammen. Hoffnungen werden zerstört. Da fällt es schwer, Worte zu finden, die wirklich trösten.

Wir leben in einer Stadt, die nicht bleibt. Sagt der Hebräerbrief. Das heißt: Nichts bleibt. Alles wird uns genommen. - Am eindeutigsten sehen wir das, am Grab eines lieben Menschen, dessen Sarg in die Erde gelassen wird. Da wird einem eng ums Herz. Besonders an diesen Tagen, an denen sich auf den Friedhöfen nur die engsten Angehörigen am Grab und nicht einmal in einer Kapelle von ihren Lieben verabschieden dürfen.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass das Leben in dieser Welt, dass das Leben in „unserer Stadt“ Opfer fordert. Die Zahlen von Opfern durch das Coronavirus steigen von Tag zu Tag; auch bei uns, aber in beängstigender Weise in Italien, in Spanien, in den USA. Menschen verzweifeln und fragen sich voller Zorn: Ist diese Welt gottverlassen ist? - Hat uns Gott verlassen?“ – Gibt es ihn überhaupt?

Aber Menschen mit diesen Fragen tragen die wache Sehnsucht und den Traum von einer andern Welt in sich; von einer Welt ohne Krankheit und Tod, in der niemand Grab eines geliebten Menschen Tränen vergießen muss. - „Ja“, sagt der Hebräerbrief, „diese zukünftige Stadt suchen wir.“ Leid und Wehklagen unter den Völkern wird es in dieser zukünftigen Stadt nicht geben. In ihr brauchen Menschen nicht zu weinen. Das Leiden aller Kreatur wird in ihr ein Ende haben. - Wenn wir sie gefunden haben diese „zukünftige Stadt“, den „Neuen Himmel“, dann wird Gott alle Tränen abwischen. Er wird zärtlich einfühlsam die Tränen abwischen, den Menschen auf den Friedhöfen, und allen, die unter Ungerechtigkeit und Tod leiden. Er wird unsere Tränen trocknen, die wir über das Leid und das Unrecht in der Welt vergießen und er wird auch die Tränen trocknen, die wir über unsere eigene Unzulänglichkeit vergießen. Zärtlich, mütterlich wird er die Tränen abwischen und uns trösten. – In der jetzigen Welt voller Schatten wird manches durch menschliche Schuld, Selbstsucht und Gier ins Zwielicht gerückt. In Gottes neuer Stadt wird alles Licht sein. Gott wird alles heilen, was kaputt ist; auch das, was wir zerstört haben; auch das, was uns zerbrochen ist. Solche Bilder und solche Visionen stellt uns die Bibel vor Augen. Es sind Hoffnungsbilder von Menschen, die diese Stadt gesehen haben; von Menschen, die die Kraft hatten, vom „Neuen Himmel“ zu träumen. - Eine Ahnung von dieser „zukünftigen Stadt“, vom „Neuen Himmel“ tragen wir alle in uns. Es sind Trostbilder für unsere wunden Seelen gegen die Schreckensbilder in den Nachrichten dieser Tage.

Auf welche Bilder schauen wir? Welchen Bildern schenke ich Vertrauen? Mein Glaube stellt mich vor die Entscheidung: Welchen Bildern gebe ich Raum in meiner Seele? Den Schreckensbildern unserer Wirklichkeit oder den Trostbildern des neuen Himmels? Auf welche Stimme will ich hören? Auf die der Verzweiflung und der Angst, der Rache und der Vergeltung, auf die Stimme des Schmerzes? Oder auf die Stimme, die Friede und Versöhnung, die Zuversicht und Hoffnung predigt? Wem gebe ich Macht über mich? Der Enge dieser vergehenden Stadt oder dem neuen Himmel, der auf uns wartet und meine Füße auf weiten Raum stellt?

In der Sprache des Hebräerbriefes gefragt: Verharre ich in der Stadt, die nicht bleibt und die an ihrem Unrecht zerbricht? Verharre ich in den bitteren Realitäten, die mich zurzeit sehr konkret umgeben und mir Schmerzen bereiten? Oder wage ich es über das konkret Fassbare hinaus mein Vertrauen auf das zu setzen, was ich selbst hoffe, was visionäre Menschen gesehen haben, was Gott mir verheißen hat: auf die neue Stadt und den neuen Himmel?

Es gelingt nicht immer, von unserer Realität hier einen Zugang dahin zu finden, wo es hell ist und leicht und wo unsere Gedanken und unsere Gefühle Weite umgibt. Manchmal sind wir von der Schwere unseres eigenen Schicksals oder dem anderer so sehr gelähmt und gefangen, dass wir den Weg in Gottes neue Welt nicht finden. Dann scheint es uns fraglich, ob es einen solchen Weg überhaupt gibt. Das gibt uns das Gefühl, in die „hiesige Stadt“ mit ihren Widersprüchen und ihren bedrückenden Erfahrungen verdammt zu sein.

Der Hebräerbrief zeichnet in seiner Sprache den Weg auf, der aus der hiesigen vergänglichen Stadt nach draußen führt. Er benützt dabei die Sprache des Opferkultes seiner Zeit. Er beschreibt den Weg, den Christus gegangen ist. Ihm sollen wir nachfolgen: „Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“

In Jesus Christus ist verbunden, was für uns auseinanderfällt: unsere Sehnsucht nach der besseren, heilen Welt und unser Leiden in der alten. Er verbindet beide Welten. In ihm sind Schmerz und Hoffnung, Tod und Leben verbunden. Er kam in die Enge unserer jetzigen Welt, um uns die Weite des neuen Himmels schmecken und spüren zu lassen. Unsere engstirnige kleinkarierte Welt machte ihn zum Opfer. Er nahm das Opfer auf sich, weil er dazu groß genug war. Er zeigt uns damit eine Weite, die wir nicht für möglich gehalten hätten.

Die ausgebreiteten Arme des gekreuzigten Christus spannen den Bogen von meiner Enge zur Weite Gottes; von meiner Angst zu Gottes Trost; von meiner Schuld und meinem Versagen zur neuen Chance, die Gott mir gibt. Christus selbst ist der Weg von der Enge in die Weite, vom Tod zum Leben.

Was können wir tun? – Wenn wir die Hoffnung der zukünftigen Stadt in unseren Herzen tragen und Gott vertrauen, dass er diese Stadt aufrichten wird, dann lassen Sie uns anderen von unseren Visionen und Träumen erzählen. Dann lassen Sie uns die Visionen und Träume wachhalten, die Menschen vor uns geträumt und gesehen haben: von Gott, der unsere Tränen abwischt, vom Hirten, der uns zum frischen Wasser und zu grünen Auen führt, von einer Welt, in der ein friedliches Miteinander von Wolf und Lamm, Schwarz und Weiß, Männern und Frauen, Eltern und Kindern möglich ist.

Damit zeichnen und gehen wir den Weg nach, den Christus gegangen ist, und bauen mit an der zukünftigen Stadt, betreten weite geöffnete Räume des Friedens und der Versöhnung. - Das können wir tun für unsere friedlose Welt - für uns und für Menschen, die kritisch nach der Gerechtigkeit Gottes fragen.

 

Und Gott begleite und geleite uns und alle, die unter dem Leid dieser Welt leiden, durch diese Zeiten. Amen!